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Alles völlig umsonst 2 oder ein Eskimo in Europa

Francine: Hallo… ja ich bin`s Francine… ach du bist es Jacques. Ich hab dir doch schon tausendmal gesagt lass mich endlich in Frieden. Fred ruft hier auch schon dauernd an und heult mir die Ohren voll… Was ich soll schuld sein, dass ihr damals aufeinander losgegangen seid. Du und Fred ihr habt ja wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank…. Nein ich trinke kaum noch, und wenn weißt du genau warum. Im übrigen kannst du mich mal!

Francine sitzt in der Küche und hat den Hörer aufgeknallt. Überall auf dem Küchentisch stehen leere Weinflaschen rum, Gardinen mit giftgelben Stores, an der Wand eine stehen gebliebene Kuckucksuhr aus der der Vogel beständig rausguckt.

Eskimo: Wer war das denn nur?

Francine: Nur mein Ex- Mann, er lässt mich einfach nicht zufrieden. Vor kurzem war er im Krankenhaus, Magengeschwür und hat mich pausenlos angerufen, um mir stundenlang Vorwürfe zu machen und mich zu beschimpfen. Ich habe schon meine Telefonnummer ändern lassen, doch er hat die neue gleich über Fred erfahren.

Eskimo: Verzeihen sie bitte, wir Eskimos sind recht neugierige Leute, zumal ich nach Europa gereist bin, um mehr über die Lebensweise der dortigen Menschen zu erfahren…

Francine ihn unterbrechend: Nein, nein ich nehme ihnen ihre Neugierde in kleinster Weise übel, so sie einem ehrlichem Interesse der Anteilnahme entspringt. Überhaupt wundere ich mich über die Umstände, in denen wir uns begegnet sind. Sie wollten zur Bushaltestelle, ich hatte zufällig den gleichen Weg und sie trugen hilfsbereit meine Tasche. Als wir dann angelangt waren, konnten sie natürlich nicht vorher wissen, das der nächste Bus erst heute Abend um zehn Uhr fährt.

Eskimo: Ja, das war sehr freundlich von ihnen mich zu einem Glas Wein einzuladen.

Francine: Apropos Wein, möchten sie noch ein Glas?

Eskimo: Bei uns in Grönland pflegen wir zwar keinen Wein zu trinken, doch bereitet es mir durchaus Freude, neue Gewohnheiten anzunehmen und der Wein hat wirklich einen interessanten Geschmack.

Francine schenkt ihm noch ein Glas ein, grinsend: …und erst die Wirkung. Apropos Grönland, wie kommt es denn das ein Eskimo Europa bereist?

Eskimo: Tja, das ist im Grunde genommen gar nicht so verwunderlich. Im letzten Jahr ist meine Familie einer Gruppe deutscher Geologen begegnet, die an einem Forschungsprojekt arbeiteten. Auf diese Weise habe ich einiges über die Lebensgewohnheiten in Deutschland erfahren, welche meine Neugierde geweckt haben. Nachdem ich den Deutschen von meinem Interesse und meinem Wunsch Deutschland und die europäischen Länder näher kennen zu lernen erzählt hatte, haben sie mir angeboten , mich bei ihrer Rückreise mit nach Deutschland zu nehmen. Außerdem haben sie mich mit der deutschen Regierung in Verbindung gebracht, die mir im Rahmen eines Kulturaustausches finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt hat, um meine Reisen zu finanzieren. Die einzige Auflage, die sie mir gemacht haben, besteht in einem detaillierten Bericht über meine Erfahrungen im europäischen Kulturkreis aus meiner Sicht, eines Eskimos eben.

Francine: Potzblitz, das ist mir natürlich eine große Ehre sie unter diesen Umständen kennen zu lernen. Haben sie denn schon etwas herausgefunden? Ich meine, worin besteht denn zum Beispiel ein grundsätzlicher Unterschied in der Lebensweise der Eskimos im Vergleich zu den Europäern? Und wie haben sie unsere Sprache überhaupt so schnell gelernt ?

Eskimo: Fragen über Fragen, da weiß ich ja kaum wo ich anfangen soll. Zumal es alles Fragen sind, die sie mir früher nie gestellt haben. Sie wussten ja nie wirklich, dass ich ein Eskimo bin. Sie haben mich tatsächlich zum Wein eingeladen, ich bin ihnen gefolgt, aber die Idee, die unbewusstes Motiv meiner Begegnung mit ihnen war, habe ich erst jetzt tatsächlich durch ihre Fragen wieder gefunden. Sie sagten mir zu mir, in mir, von mir, zwischen ihnen und mir, dass ich ein Eskimo bin.

Francine: Eskimos kennen nicht das Handels und zwischenmenschliche Verkehrsmittel Geld, sondern nur das, der in Handelsbeziehungen tretenden Zeit. Deshalb meinten sie irgendwann, ihre Zeit, sei bezüglich ihrer Handelsbeziehungen zu mir abgelaufen, nachdem sie meinten mich wieder mit meinem Mann versöhnt zu haben, schickte ich sie tatsächlich fort.

Eskimo: Stimmt, unglaublich, wie konnten sie das wissen, und wie wissen sie es jetzt?

Francine: Ich wusste es damals ebenso wenig wie sie wussten, das sie meine Sprache sprechen. Warum verstellen sie sich jetzt, in dem sagen sie seien ein Eskimo, könnten also unmöglich meine Sprache sprechen?

Eskimo: Ich weiß es noch nicht, ich versuchte und versuche mich zu erinnern… Ich war der Dritte, der Außenstehende Beobachter zwischen ihnen und ihrem Ex- Mann Jacques. Sie habe mir eine Uhr geschenkt. Eine den Zeitbeziehungsbegriff, vernachlässigende Anschauung, würde sie wohl eine kitschige, billige Damenarmbanduhr der Marke Swatch nennen, auf die mich eigentümlicherweise später so viele Leute angesprochen habe, in der Gestalt, das ihre einzigartige Schönheit durch ihre ihnen inne wohnende einzigartige ästhetisch-
zwischenmenschliche Betrachtung ihren Ausdruck fand. Woher konnten sie von der Schönheit, die ich in ihr sah gewusst haben?

Francine: Sie haben heute wirklich eine mir an ihnen völlig fremde Art über Dinge zu reden, die vorher in einem ganz anderen Licht standen. Sie hatten damals, glaube ich keine Uhr, da ihnen eine Quarzuhr kaputtgegangen war. Ich kramte in einer Schublade und fand jene Swatch Damenarmbanduhr, im übrigen auch eine Quarzuhr, allerdings funktionstüchtig und gab sie ihnen, da ich für sie weiter keine Verwendung hatte und die ihre kaputtgegangen war. Auch redeten sie damals ganz anders, wenn sie mich begrüßten und nicht wie heute gleichsam einem snobistischen, hochmütigen Außerirdischen oder Eskimos, ist mir ja auch ganz gleich wie sie sich nennen. Und ihr Geschwafel von den Eskimos die kein Geld als Zahlungsmittel kennen, nur die Zeit, die sie für den anderen opfern…. Damals war das ja erstmal ganz amüsant, doch heute kommt mir ihr Gerede nur lächerlich vor, von wegen Forschungsauftrag, …mit der Stoppuhr?..und die Menschen in Europa kennen lernen wollen, gar einen Bericht schreiben wollend. Wir sind hier doch nicht im Zoo, und ich habe die Nase gestrichen voll, das Anschauungsobjekt ihrer psychophatischen Fantasmen und wahnsinnigen Ideen zu sein.

Francine blickt ihn angewidert an und nimmt einen kräftigen Schluck aus ihrem Weinglas.

Der Eskimo schaut sie entgeistert an und sagt ganz leise zaudernd: Ich habe es doch nur gut gemeint, und sie haben sich doch mit ihrem Mann versöhnt.

Francine: Sagen sie mal, sind sie eigentlich völlig schwachsinnig und haben keine Ohren im Kopf? Sie haben unser Telefongespräch doch gehört. Mein Mann geht mir immer noch genauso auf den Geist wie früher und wie sie jetzt. Und dann fragen sie so scheinheilig, wer denn Fred sei. Dabei haben wir doch damals im Cafe mit ihm zusammen gesessen.

Eskimo mit Grauen in der Stimme: Dann war ich ja damals schon gar nicht wirklich? Hatte keinen Sinn, keine Existenz?! Ich bin also kein Eskimo?!

Francine einlenkend: Sie waren und sind ein komischer Vogel, wobei sie mir damals wesentlich sympathischer waren als heute. Im übrigen wer sie sind, ein Esel, Rhinozeros, Fischer oder Pinguin, woher soll ich das wissen. Sie können mich mal kreuzweise.

Eskimo: Ja, ja tatsächlich jetzt erkenne ich sie wieder. Sie sind es… sie sind die Francine, die ich seit jeher kenne und gekannt habe und kennen werde. So haben sie damals auch mit ihrem Mann gesprochen und ich wollte sie versöhnen, war der Außenstehende Dritte im Bunde dieses illusionären Spiels, wo ich jetzt der Zweite bin, der Hauptdarsteller also. Mein ESKIMO-SEIN liegt außerhalb der Zeit, in der ich jetzt zu ihnen spreche.

Francine: Oh mein Gott! Sie sind ja wahnsinnig, fangen sie doch um Himmelswillen nicht immer wieder davon an. Ich kann das nicht mehr ertragen, ich hasse sie dafür. Es ist besser, wenn sie jetzt gehen, bitte ich flehe sie an

Eskimo: Ja, ja kommen sie, sie meine Medusa, sie meine Messalina, sie meine Muse, mein Alles, sie zweiköpfiges Ungeheuer der Zeit, die ausgelöscht ist in diesem Moment.

Francine fluchend: Sie Ungeheuer, sie Riesenarschloch, warum wollen sie um alles in der Welt mein Leben zerstören. Ich hoffe mein Ex- Mann kommt gleich vorbei, um sie vor die Tür zu setzen.

Es schellt an der Tür. Ihr Ex- Mann Jacques betritt die Szene. Er hat das Schreien auf dem Flur gehört und setzt gerade dazu an in besorgtem Gleichmut zu sprechen

Jacques: Guten Abend verehrter Eskimo, wir kennen uns ja bereits, guten Abend verehrte Francine. Wie ihr wohl beide bereits wisst, bin ich das Wesen der Zeit, die reine, verkrüppelte Gestalt eines vergangenen Zustandes ihrer Selbst und ihrer Welt. Ich bin das Wesen, welches die Zeit auslöscht, außerhalb von ihr steht, nennt mich einfach Ewigkeit, denn ich bin das Namenlose und habe euch hiermit die Frage gestellt und die Antwort gegeben, auf das was hier vorgeht.

Francine und der Eskimo sind wie erstarrt im Staunen und brechen dann nach einer endlos lang erscheinenden Weile in ein unglaubliches Gelächter aus. Man fürchtet fast sie müssten sich zu Tode lachen und kreischen dabei immer wieder beide gleichzeitig vor sich hin: DAS EWIG GLEICHE! DAS EWIG GLEICHE!… usw.

Francine immer noch lauthals zu Jacques: Wer sind sie denn überhaupt?

Eskimo zu Jacques ebenfalls immer noch lauthals lachend: Wer sind sie denn überhaupt?

Jacques trällert freudig vor sich hin: DAS EWIG GLEICHE, DAS EWIG GLEICHE, DAS EWIG GLEICHE, usw., usw.

Vorhang

"Alles völlig umsonst 2 oder ein Eskimo in Europa" © Thomas Hecht (1995)

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